ÜBER DAS INHALTLICHE SYSTEM DES "SPRICHWÖRTERBUCHES"


1.
In Ausgaben der Sprichwörter hat man zum Systematisieren (Einordnen, Gruppieren) des Materials mehrere Methoden benutzt, darunter die ethnisch-geographische, die sprachliche, die chronologische, die frequenzbezogene Methode ua. Viel häufiger als die anderen hat man zwei Prinzipien praktisiert: das alphabetische und das thematische. Die alphabetische Methode dominiert in wissenschaftlichen Ausgaben, die thematische in populären Ausgaben. Das "Sprichwörterbuch" gehört eher zu den letzten.

Bei der Betrachtung der inhaltlich-thematischen Sprichwörtersysteme, die in den bisherigen Ausgaben vorkommen oder als theoretische Konstruktionen angeboten werden, kommt man bald auf die Schlussfolgerung, dass

   1) diese Systeme sich voneinander viel unterscheiden, die Anzahl der Systeme ist fast ebenso gross wie die ihrer Verfasser;

   2) sie zeigen eher die Weltanschauung und den Geschmack der Verfasser als die wirklichen Inhaltsdominanten, Hauptkategorien, Paradigmen, sog. natürliche Klassen; leider sind sie oft tendenziös und eigenmächtig;

   3) sie ermöglichen keine besonders erfolgreiche Suche des Materials nach den inhaltlichen Merkmalen und sind unausreichend hinsichtlich der logischen Strenge und der semantischen Ordnung der klassifikatorischen Prozeduren.

Die Gründe dieser Mängel sind teils auch Dummheit, Nachlässigkeit, unobjektive Betrachtung des Stoffes, religiose oder politische Vorurteile von der Seite des Verfassers, ebenso der Druck der Zensur usw. Man hat aber den Grund zu vermuten, dass auch in dem Fall, wenn diese Faktoren ausgeschlossen oder minimal wären, das Bild sich nicht viel ändern würde, da die Schwierigkeiten meistens "von der Sache selbst" ausgehen, d.h. vom Sprichwort als Phänomen der poetischen und der kommunikativen Spezifik, der Spezifik der Sprache und deren Semantik, der Spezifik des Funktionierens des Menschengeistes, von der Natur des Menschenlebens und des menschliches Handelns.


2.

Seien hier kurz noch einige augenfälligere Versuche erwähnt, in welchen das Gründen des Sprichwörtersystems nicht bloss als Einordnung irgendeines Stoffes für einen populären Sammelband, sondern als rein theoretische Sonderaufgabe betrachtet wird.

Semantische Sprichwörterklassifikationen waren besonders in der Parömiologie der 70er Jahre ein aktuelles Problem und das vor allem dank der Arbeiten eines der bekanntesten Parömiologieklassiker, Grigori Permjakov (1919–1983): "Избранные пословицы и поговорки народов Востока" (1968), От поговорки до сказки" (1970), "Паремиологический эксперимент" (1971), "Пословицы и поговорки народов Востока" (1979) ua.
Seine praktischen Klassifikationsversuche basierten auf der sog. Klischeetheorie, deren Ziel es war, einen gewissen Komplekt der klassifikatorischen Merkmale oder eine universelle metasprachliche Apparatur zur einheitlichen Klassifikation, Beschreibung und Analyse der Texte von verschiedener Länge und Aufbaustruktur zu finden. In dieser Hinsicht sind die Strebungen von Permjakov vergleichbar mit den Versuchen in der glossemathischen Linguistik, die auch zur Erfindung einer einheitlichen Sprachbeschreibung oder Texttheorie streben, besonders die Arbeiten von Louis Hjelmslev. Die Klischeetheorie und die Sprichwörtersysteme von Permjakov waren ein heisses Thema in der ganzen Parömiologie der 70er Jahre.

Ein anderer weltberühmter Parömiologe, Matti Kuusi (1914–1998), hatte in den 60er Jahren die Kartothek der internationalen Parallelen der finnischen Sprichwörter geschaffen. Am Anfang war die Kartothek als persönliches Arbeitsmittel und Gedächtnisstütze gedacht, entwickelte sich aber bald zum Register, das reichliches globales Material enthielt. Als am Ende der 60er und am Anfang der 70er Jahre die ersten grösseren Arbeiten von Permjakov erschienen (siehe oben), bekam Kuusi sicherlich einen starken neuen Impuls, um in (besonders in internationalen) Sprichwörterbüchern vorkommende Systematisierungsprinzipien gründlicher zu erforschen und über das Darlegungssystem seines eigenen Sprichwörterindexes zu denken. Kuusi kritisierte viele Seiten des Systems von Permjakov und veröffentlichte Abschnitte von seinen eigenen Versuchen, die ebenso auf die binären Oppositionen gerichtet waren wie die von Permjakov ― siehe "How Can a Type-Index of International Proverbs be Outlined?" ("Proverbium" 15 (1970)); "Towards an International Type-System of Proverbs" (FFC 211 (1972)). Da eine solche Klassifikation steif eindimensional ist, also hilflos bei der Entstehung konkurrierender Alternativen und überhaupt bei der Behandlung typologisch spärlichen oder lückenhaften Materials, wurde Kuusi in den Benutzungsmöglichkeiten der auf den Oppositionspaaren ua. Invarianten basierenden Klassifikation bald enttäuscht. (Grundsätzlich haben sich auch die Systeme von Permjakov in gleicher Richtung entwickelt: die Hauptform des Systems von 1968 stellt sozusagen vier lineare Reihen dar, im Buch des 1979 findet man schon ein zweidimensionales Matrix.) Um in der Gliederung bei der Bestimmung des semantischen Status eines gewissen Sprichwörtertyps mehr als einen Ausgangspunkt der Gliederung benutzen zu können, transformierten Kuusi und seine Tochter Outi Lauhankangas den Index in eine relationelle Datenbasis (im Paradox-System). Diese Datenbasis ermöglicht einen Überblick über den Stoff in verschiedenen Zusammenhängen. Hoffentlich wird das Register bald auch der internationalen parömiologischen Öffentlichkeit bekanntgemacht ― z.B. durch das Internet, auf der CD-ROM oder in einer ähnlichen elektronischen Form. Das Register wird vielleicht nie als Buch erscheinen, aber auf Basis des Quellenmaterials haben die Wissenschaftler einen dicken Band von Sprichwörtern der Welt herausgegeben. Die finnische Überschrift ist "Maailman sananlaskuviisaus" (1993); das Material wird in sehr originellen semantischen Einteilungen angeboten.


3.

Um den Leser nicht mit den allgemeinen Problemen der sprachlichen und poetischen Semantik zu langweilen, wird die Aufmerksamkeit anschliessend nur auf einige wichtigere Fragen gelenkt, die das Zusammenstellen einer qualitäten semantischen Sprichwörtergliederung erschweren.

1. Mangel an der unmittelbaren inhaltlichen Information

Den Sprichwörterbeständen der ganzen Welt ist charakteristisch, dass sie aus blossen Sprichwörtertexten bestehen, dazu gehören nur selten Kommentare über die Bedeutungen, die traditionelle Benutzungsweise usw. Davon rührt die Gefahr her, die semantische Sprache der Sprichwörter falsch zu entkodieren, besonders in den Fällen, wenn sie archaisch ist oder aus irgendeiner ferner Kultur stammt. Bei jedem grösseren Materialbestand gibt es immer auch solche Sprichwörter und Redensarten, deren Inhalt dem heutigen Forscher so unverständlich bleibt, dass er sich für keine Interpretation entscheiden kann. Im "Sprichwörterbuch" wird solches Material im letzten, J-Kapitel angegeben.

2. Die Polysemie der Sprichwörter

Ein Sprichwörtertext gibt oft mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Einer der wichtigsten und der häufigsten Aspekte dieser Unbestimmtheit ist der denotative (referentielle, designative). Sein Hauptgrund ist die Vieldeutigkeit der Gleichnisse (Metapher, Allegorie), deren Vorhandensein den Sprichwörtern sehr charakteristisch ist.

Ein der schönsten Beispiele, die mir zur Verfügung stehen, ist die Angabentabelle aus dem Artikel "Variantenschichten eines ungarischen Proverbiums" von Vilmos Voigt. Die Tabelle gibt die Bedeutungsvarianten des Sprichwortes Auch dem Teufel soll man eine Kerze anzünden (siehe "Proverbium" 15 (1970)). Angeblich hat man diesem Sprichwort zumindest die folgenden Bedeutungen beigemessen:

  1. Es gibt gute sowie böse Leute in der Welt
  2. Unter den Menschen, die in der Kirche sitzen, gibt es gute, gibt es schlechte
  3. Auch ein schlechter Mensch kann in die Kirche gehen
  4. Auch ein Mensch mit schechter Moral kann sich einmal bessern
  5. Auch ein besserer Mensch kann einen Fehler, eine Sünde begehen
  6. Auch ein guter Mann betrügt dann und wann seine Frau
  7. Man eheliche Treue muss man nicht immer halten
  8. Auch ein stiller Mensch schlägt über die Stränge (d.i. zankt, rauft, lumpt, führt sich unmoralisch auf)
  9. Es kommt vor, dass einer betrunken ist
  10. Die Trunkenheit ist keine Todsünde
  11. Auch der Betrunkene wird einmal nüchtern
  12. Wer jetzt betrunken ist, der kommt einmal zur Besinnung
  13. Das ist nicht schlimm, wenn man sich einmal sehr betrinkt
  14. Man muss den Männern verzeihen
  15. Nicht aus eigenem Willen wird der Mensch betrunken
  16. Ich verzanke mich mit jemanden und nicht mir gibt man Recht
  17. Der Mensch nimmt ohne sein Vergehen Schuld
  18. Aus Versehen tut der Mensch Schlechtes
  19. Kleine Gegenstände gehen durch den Geebrauch verloren
  20. Ein solches Arbeitsgerät, das man häufig zur Hand nimmt, geht schnell verloren

Da die denotative Unbestimmtheit der Sprichwörtertexte oft (auch) als thematische Unbestimmtheit vorkommt, ist es nicht schwer vorzustellen, welche Probleme bei der inhaltlichen Gliederung entstehen: wir möchten in unserem System für jedes Sprichwort einen bestimmten Platz finden, das ist aber nur auf Kosten der Kompromisse und der Eigenmächtigkeit möglich.

So könnte man das obengegebene ungarische Sprichwort unter solche Themen, wie 'Kirchenbesuch', 'der gute und der schlechte Mensch', 'Fehler und Laster', 'Ehebruch', 'das Trinken, der Trinker', 'das Vergeben', 'Streit', 'Beschuldigung', Dinge, Werkzeuge', vielleicht auch 'Fehlschläge, Geschehnisse' bringen.

Bei der Suche nach einem Kompromiss kann der Forscher die "horisontale" sowie die "vertikale" Richtung wählen:

1. Er kann sich (z.B. nach der Menge der direkten Erklärungen) entscheiden, ob es eine "Hauptvariante" (d.h. die häufigste, die wichtigste) gibt und bei der Gliederung von der Hauptbedeutung ausgehen.

2. Da die "horisontalen" Bedeutungsvarianten in bezug auf einander gewöhnlich keine blinden Homonyme sind, sondern einen inhaltlichen gemeinsamen Teil aufweisen, könnte die "horisontale" Kompromisslösung darin bestehen, dass man einen Metatext formuliert, der das Sprichwort als ein Ganzes beschreibt (darunter auch die Bestimmung des Themas). Der Metatext sollte die optimalen sowie die gemeinsamen Termini berücksichtigen und die meisten "horisontalen" Bedeutungsvarianten decken.

3. Man kann das Sprichwort nach der "horisontalen" sowie "vertikalen" Grundlage unter jede Themabestimmung dublieren.

Auch beim Beispiel von Voigt schliessensich meistens sich die Themen wie 'Ehebruch', 'das Trinken', 'das Streiten' gegenseitig aus (das in der "horisontalen" Sicht); die Themabestimmungen wie 'der gute und der schlechte Mensch', 'Fehler und Laster' decken aber einen viel breiteren Begriffsbereich, d.h. stehen in der "vertikalen" Sicht höher. (Die hier benutzten Wendungen horisontal und vertikal sind natürlich auch selbst bloss grobe Metaphern; in Wirklichkeit sind die inhaltlichen Zusammenhänge der Begriffe und der Wörter viel komplizierter.)

Ausser der denotativen Polysemie können auch bei anderen, darunter den modalen Aspekten der Unbestimmtheit des Sprichwortes Schwierigkeiten hervortreten. Unser ungarisches Beispiel ermöglicht es uns, einige von ihnen zu demonstrieren, z.B. die Unbestimmtheit des bewertenden Untertextes bei einem behauptenden Sprichwort und der davon ausgehenden indirekten Vorschreibung, ebenso die Unbestimmtheit der "psychologischen Betonung" (der Informationstruktur, der aktuellen Gliederung). Die denotative Information, die die 20 Bedeutungsvarianten genau oder mit Übermass deckt, könnte man folgendermassen zusammenfassen: 'auch ein im allgemeinen guter Mensch kann manchmal böse Taten tun (sich irren, sündigen)'. Im konstatierenden Metatext bleibt die psychologische Betonung offen und je nach dem, ob wir die Betonung auf das Gute oder das Böse legen, bekommen wir zwei unterschiedliche Interpretationslinien:

   1) 'obwohl ein guter Mensch manchmal auch Böses tut, ist er hauptsächlich doch gut' → 'die wenigen Fehlschläge eines guten Menschen kann man ihm vergeben' und

   2) 'obwohl ein Mensch hauptsächlich gut ist, tut er manchmal doch auch Böses' → 'auch einem guten Menschen kann man nicht zu viel vertrauen, ihn loben'.

In der Wirklichkeit verbinden sich die Effekte der semantischen Unbestimmtheit mit den schon erwähnten Problemen, die von der mangelnden unmittelbaren Information ausgehen. Bei der Zusammenstellung der "Bedeutungsübersetzung" können wir uns nicht bloss auf die unmittelbaren Angaben stützen, die uns dokumentiert vorliegen (da es sie in der Regel sehr wenig gibt). Auch unsere allgemeine Kompetenz im sprachlichen und phraseologischen Bereich genügt nicht (da man auch die direkten Angaben berücksichtigen muss), die Zusammenpassung der beiden kann aber manchmal sehr problemhaft sein.

3. Die semantische Beschreibung des Sprichworttextes ist unvermeidlich inhaltsärmer als der Objekttext selbst

Ein unvermeidlicher Informationsverlust findet überall statt, wo es um einen Modellierungs- oder Verallgemeinerungsprozess handelt. So kann auch die adäquate semantische Beschreibung eines Sprichwortes als einer poetischen Einheit nur derselbe Sprichworttext selbst sein. Alle "nichtkünstlerische" Metatexte sind informationsärmer als der ursprüngliche Text. Der Informationsverlust setzt sich auch bei der Einordnung eines mehrdeutigen Sprichwortes in ein inhaltliches System fort. Weiter, bisherige inhaltliche Gliederungen der Sprichwörter sind fast ausnahmlos thematisch, d.h. man hat die Gruppen in der Regel mit Substantiven, substantivierten Verben oder anderen nichtprädikativen Worten oder Wortverbindungen bezeichnet: 'Vögel', 'Armut', 'Gier', 'Heuernte', 'Diebstahl', 'Faulheit und Fleissigkeit', 'Arbeit und Lohn', 'Verhältnisse der Eltern und der Kinder', 'Ungerechtigkeit der Gerichtsgewalt' ua. Die Sprichwörtertexte dagegen sind Sätze, d.h. sie beinhalten unbedingt einen Prädikationsakt und stellen sich daher von mindestens zwei Unterteilen zusammen:

   1) der Teil, der auf den Inhalt des Satzes hinweist (oder Thema, bekannte Information) und

   2) der Teil, der etwas über diese bekannte Information besagt (oder Rhema, neue Information).

Also bereichert das gewöhnliche thematische Sprichwörtersystem den Mechanismus des Informationsverlustes mit einer ganzen neuen Dimension oder Stufe und der Informationsverlust findet auch dann effektiv statt, wenn wir genug dokumentierte direkte Information haben und auch die semantische Verschwommenheit des Sprichwortes nicht besonders gross ist.

Da ein kontextloser Satz, darunter die Informationsstruktur des Sprichwortes im allgemeinen auch selbst unbestimmt ist, kann man keineswegs garantieren, dass die Sprichwörterforscher von dem inhaltlichen Ganzen eines Sprichwortes ein und dasselbe Element (bzw. Teilstruktur) auswählen. Zu häufig fehlt davor die Etappe der typologischen Gliederung des Sprichwörterbestandes (dass man die Texte, die jedes konkretes Sprichwort vertreten, zusammenfasst), so dass zum Schluss nicht Einzeltexte, sondern Typen (in der folkloristischen Bedeutung) die Einheiten einer Klassifikation bilden). So ist es bei jedem etwas grösseren Sprichwörterbestand erwartungsgemäss, dass Texte mit ähnlicher oder gleicher Wortfassung unwillig in verschiedenen Rubriken des Systems erscheinen. Solchen Fehlern sind sogar international hochgeschätzte Autoren von Dal bis Permjakov nicht entgangen. Neben der Polysemie der Methapern ist einer der Hauptgründe dieses Problems nämlich die Uneinheitlichkeit der Themabestimmungen.

Kurz scheint es, als könnte man den Informationsverlust vermindern, falls man anstatt der thematischen Klassifikation eine Klassifikation der Ideen (Behauptungen, Einschätzungen, Verbote, Normen usw.) schaffen würde. Bei jedem Einzelfall könnte ein satzförmiger Metatext natürlich eine viel grössere Menge der Information, die sich im Objekttext (d.h. im Sprichworttext) befindet, vermitteln. Bald sieht man aber, dass man mit diesem Verfahren der grundsätzlichen Lösung des Problems nicht näher gekommen ist, sondern man hat das Problem einfach eine Stufe weiter nach oben geschoben ― das Verhältnis 'Metatext niedrigeren Grades : Metatext höheren Grades' anstatt des Verhältnisses 'Text : Metatext'.

Praktische Lösungen könnten auch hier wahrscheinlich nur Kompromisse einer oder anderer Art sein.

Wir könnten beispielsweise unseren "Ideenkomplex" als Ganzes auf eine niedrigere Verallgemeinerungsstufe stellen, so dass er eher eine lineare Reihe als eine Klassifikation darstellen würde. Die Anzahl solcher Gruppen oder "Einzelideen" niedrigeren Grades würde sehr gross sein und in dem Fall, wenn man ihre Beziehungen zueinander nicht erklären würde, würde das Finden des notwendigen Materials in diesem System relativ mühsam sein.

Wenn wir aber konkrete Ideen zu den Ideen höheren Grades generieren möchten, würden wir bald viele alte und neue Komplikationen vorfinden. Z.B. würden wir wahrscheinlich entdecken, dass das Feld unserer Ideen niedrigeren Grades keine "horisontale Fläche" darstellt, sondern einige Ideen sind ganzheitlich höher als die andreren (d.h. beinhalten einige andere); oder dass einige Begriffe in einem und demselben Metatext der niedrigen Stufe schon so allgemein sind, dass man ihnen keine noch allgemeineren Oberbegriffe finden kann, einige andere Begriffe könnten aber unter mehrere Oberbegriffe gegliedert werden; oder dass viele Ideen (abgesehen von der Problematik der Zugehörigkeit zu einem oder anderem Bereich) noch verschiedene kausale, modale, pragmatische Beziehungen der Voraussetzung und der Folge oder andere Arten Verwandschaft aufweisen, so dass das Fixieren der Beziehungen einer Art auf der Oberstufe nur auf Kosten des Abbrechens der anderen Beziehungen möglich ist.

Um das Vorhergesagte zu beweisen, möchten wir uns das folgende Ideenbündel ansehen (entsprechendes estnisches Material stammt aus dem "Sprichwörterbuch" aus den Inhaltsgruppen 213, 256, 322, 338–340, 356, 385–387, 413, 530, 558, 604–605, 689, 706–707, 744–759, 767–768, 806, 854, 871, 879, 897, 900, 915):

Anfangs ist die Rede von den Verhältnissen und der Entsprechung der Worten und der Gedanken und der axiologische Untertext ist mehr oder weniger neutral.
  1. Sage nicht alles, was du denkst
  2. Es ist dem Menschen eigen, dass er eines denkt und anderes sagt
  3. Die Gedanken ~Gefühle ~Pläne des anderen Menschen kann man nicht durchsehen

Der Satz 4 ist eine Konkretisierung des vorigen, allgemeinen Satzes und behandelt gleichzeitig auch das Element der Listigkeit: von hier an sind die Ideen entsprechend der Richtung gut/schlecht deutlich markiert. In mancher Hinsicht sind die Sätze 5 und 6 wiederum die Konkretisierungen des Satzes 4.
  1. Die Gedanken eines listigen Menschen kann man nicht durchsehen
  2. Die Wut des Gutsherrn ist verborgen, aber dauerhaft
  3. Ein listiger Freund ist schlimmer als ein Feind
  4. Wer vor dem Auge freundlich spricht, denkt in seinem Herzen Böses

Der 8. Satz bindet die Listigkeit mit dem Glauben, dem Vertrauen und diese neue Komponente setzt sich noch einige Zeit fort (bis zum 27. Satz). Die Sätze 8–12 haben einen imperativen Charakter und zeigen einige Menschentypen, denen man wegen einiger mentalen oder sozialen Eigenschaften angeblich nicht glauben oder vertrauen kann.
  1. Einem listigen Menschen kann man nicht glauben
  2. Vertraue nicht einem bösen Menschen
  3. Einen bösen Menschen soll man fürchten, zu ihm misstrauisch sein
  4. Dem Gutsherrn kann man nicht vertrauen
  5. Dem Versprechen des Gutsherrn kann man nicht vertrauen

Seit dem 13. Satz ist die Rede weiterhin von der Unglaubwürdigkeit und dem Misstrauen, aber die Modalität ist jetzt indikativ. Man verarbeitet und konkretisiert mehrere Aspekte der Idee, dass die Menschen, die sich voneinander irgendwie unterscheiden, gegenseitig misstrauisch sind. Die Sätze 13–14 sind eigentlich Sätze über den Glauben einer gewissen Not des anderen Menschen und der Satz 15 ist in mancher Hinsicht ihre Verallgemeinerung.
  1. Der Reiche glaubt nicht dem Armen, der Arme glaubt nicht dem Reichen
  2. Ein Gesunder glaubt nicht einem Kranken
  3. Man nimmt die fremde Not nicht ernst, unteschätzt sie

Von dem 16. bis zum 20. Satz wird das Thema der (Un)glaubwürdigkeit fortgesetzt, aber die Menschen werden hier von einem ethischen, sittlichen Gesichtspunkt aus gesehen.
  1. Ein Lügner glaubt nicht, dass der andere Wahrheit sagt
  2. Ein tugendhafter Mensch glaubt einem Bösen, ein böser Mensch einem tugendhaften Menschen nicht
  3. Ein lasterhafter Mensch glaubt nicht einem tugendhaften Menschen

Die Sätze 19 und 20 sind in mancher Hinsicht wieder gegensätzlich: im 19. Satz sind die Verhältnisse zwischen den Bösen schlecht, im 20. Satz eher gut, solidarisch.
  1. Ein lasterhafter Mensch ~ein Verbrecher vertraut nicht einem Seinesgleichen
  2. Verbrecher halten zusammen, kennen einander, verraten einander nicht

Die Sätze 21–26 haben wieder einen deutlichen imperativen Charakter, es werden noch mal die Menschentypen dargestellt, denen man nicht glauben darf.
  1. Es ist sinnlos ~unnützlich ~schädlich einem Betrüger zu glauben
  2. Vertraue nicht einem Irrsinnigen ~einem Dummkopf
  3. Einem Freund darf man nicht zu viel vertrauen
  4. Der Frau kann man nicht vertrauen, man muss auf sie aufpassen

Der 25. Satz ist eigentlich paradox, da er besagt, dass man sogar sich selbst nicht glauben soll, es erhebt sich zugleich die Frage, was man hier überhaupt gedacht hat.
  1. Vertraue auch dir selbst nicht

Die Sätze 26 und 27 sind einerseits synonym: fremden Menschen darf man nicht glauben, dagegen diejenigen, die man schon lange kennt, sind vertraulich. Aber der Satz 27. bringt die zeitliche Dimension mit sich, genauer das Motiv der vorzeitigen Dinge. Weiter wird wieder konkretisiert, welche diese vorzeitigen Dinge sind und was man im Zusammenhang mit ihnen falsch macht. Das dauert bis zum 33. Satz.
  1. Glaube nicht der Welt ~fremden Menschen ~zufälligen Menschen ~jedem Menschen
  2. Einem Menschen kann man nur dann vertrauen, wenn man ihn gut kennt

Die Sätze 28 und 30 sind deshalb synonym, weil sie sich zu auf die Frau beziehen. Der 29. Satz ist inhaltlich die Konkretisierung des 30. Satzes.
  1. Eine Frau kennt man nicht, bevor man mit ihr lange zusammengelebt hat
  2. Eine Frau soll man nicht vorzeitig loben
  3. Niemanden darf man loben/tadeln, bevor man ihn gut kennt
  4. Lobe das Wetter ~den Tag ~das Jahr nicht vorzeitig
  5. Freue dich nicht ~hoffe nicht zu viel vorzeitig

Auch zwischen dem 33. und dem 34. Satz gibt es eine synonymische Beziehung: alt ~bekannt.
  1. Das Alte ist bekannt, das Neue unbekannt
  2. Was man durchgemacht hat, ist bekannt, was man nicht durchgemacht hat, ist unbekannt
In den Sätzen 35 und 36 wird das Motiv des Bekanntseins wieder mit dem Motiv des Vertrauens und des Betrugs verbunden.
  1. Wen man kennt, dem weiss man zu vertrauen/missvertrauen ~den weiss man zu fürchten ~zu verdächtigen
  2. Wer einmal betrogen hat, dem vertraut man nicht mehr

Die Sätze 37 und 38 sind ebenso inhaltlich verwandt, diese Verwandtschaft kann man aber weder als Synonymie noch als Antonymie klassifizieren: sie sind eher widersprüchlich oder einander ausschliessend in dieser Hinsicht, dass die (übermässige) Leichtgläubigkeit sowie das Misstrauen verurteilt wird.
  1. Es ist einfach einen Leichtgläubigen zu betrügen
  2. Wer zu den Anderen misstrauisch ist, dem kann man auch selbst nicht vertrauen

Die Sätze 39 und 40 sind semantisch verwandt deshalb, weil in beiden kleine und grosse Diebstähle und Verluste des Vertrauens dargestellt und gleichgesetzt werden.
  1. Wem man bei Kleinigkeiten nicht vertrauen kann, dem kann man auch bei grossen Dingen nicht vertrauen
  2. Ein kleiner Diebstahl ist ebenso ein Verbrechen wie ein grosser

Seit dem 41. Satz ist die Rede fortdauernd von dem Glauben, aber das ist nicht mehr das Vertrauen zu einem anderen Menschen, sondern das Problem der allgemeineren Glaubwürdigkeit/ Unglaubwürdigkeit der Information.
  1. Glaube nur daran, was du sicherlich weisst
  2. Was man selbst gesehen hat, ist glaubwürdiger als das, was man von den Anderen gehört hat

Die Sätze 43–46 behandeln die Gerüchte und deren Vertraulichkeit.
  1. Glaube nicht alles, was dir gesagt wird
  2. Gerüchte sind oft grundlos oder übertrieben
  3. Ein Gerücht entsteht nicht grundlos, es basiert auf der Wirklichkeit
  4. Man spricht nicht davon, was man nicht weiss

In dieser Hinsicht sind die Sätze 47–50 Verallgemeinerungen oder Schlussfolgerungen, die man aufgrund der vorherigen Sätzen machen kann, dabei ist die Form manchmal axiologisch, manchmal imperativ. Gleichzeitig vertreten sie alle allgemeiner die Idee: Sprich weniger!
  1. Lieber schweigen als zu viel sagen
  2. Übermässige Schwätzigkeit bringt schlechte Folgen
  3. Denk nach, ehe du sprichst ~sprich nicht gedankenlos

Der 50. Satz ist die Verallgemeinerung des 49. in dieser Hinsicht, dass das Sprechen eine Unterart des Handelns ist und bei den beiden gilt, dass man vorher denken oder überlegen muss.
  1. Überlege lange, ehe du etwas machst

Der 51. Satz steht in einem unmittelbaren modalen Zusammenhang mit dem 50. Satz, er ist die Begründung des 50. Satzes und ihre gemeinsame Idee ist etwa: 'Wer seine Taten nicht sorgfältig überlegt, der leidet Schaden, deshalb soll man lange überlegen, ehe man etwas tut'.
  1. Wer unvorsichtig handelt, erleidet Schaden ~muss bereuen
  2. Der Mensch verrät sich selbst mit seiner Rede
  3. Was man einem Menschen gesagt hat, wird sich noch weiter verbreiten

Weiter behandelt man verschiedene Strategien des Sprechens/des Schweigens und bei den Sätzen 54–55 kommt man zu den Motiven des heimlichen Zuhörens und des Geheimnisses und in den Sätzen 55, 59, 61 und 66 werden die Subjekte benannt, die als Zuhörer oder Mitwisser der Geheimnisse besonders gefährlich sind.
  1. Wenn du unerwünschte Zuhörer hast, sollst du nicht alles sagen
  2. Das Kind hört zu ~spricht die Geheimnisse der Familie aus
  3. Das Kind kann nicht heucheln, lügen
  4. Die Frauen sind von Natur aus geschwätzig
  5. Die Frau kann das Gehörte nicht für sich halten
  6. Sage deine Geheimnisse nicht deiner Frau
  7. Die Frau soll auch dem guten Mann nicht alles sagen
  8. Sage deine Geheimnisse nicht deinem Freund

In den Sätzen 62–64 erscheint die Einschränkung 'eigene Familie' und daher auch die Möglichkeit der alternativen Themabestimmung.
  1. Die Geheimnisse ~Probleme deiner Familie sollst du nicht im Dorf weitersprechen
  2. Man soll nicht vor den Gästen streiten
  3. Der Gast ~der Knecht sieht ~plaudert die Geheimnisse der Familie aus
  4. Der Bettler trägt die Gerüchte weiter
  5. Sprich dem Bettler nicht zu viel, weil er alles ausplaudert

Die Sätze 67–70 machen über geheimnisvolle Sachen sehr breite und absolute "ontologische" Verallgemeinerungen.
  1. Überall, sogar in anscheinend ungefährlichen Orten können sich Zuschauer ~Zuhörer stecken
  2. Einige, die zu schlafen ~gleichgültig ~unaufmerksam scheinen, sind eigentlich wach ~aufmerksam
  3. Nichts kann man so heimlich machen, dass es nicht an den Tag kommt
  4. Das Gerücht ~eine heimliche Tat kommt zum Schluss an den Tag

Die Sätze 71–73 sind deren ungefähre Schlussfolgerungen auf der axiologischen (und imperativen) Ebene.
  1. Lieber offen als heimlich handeln
  2. Die Geheimtuerei bringt schlechte Folgen
  3. Übermässige Neugier bringt schlechte Folgen

Der 74. Satz ist eine eigenartige "ungenaue" Einengung oder Konkretisierung des 73. Satzes.
  1. Heimliches Zuhören ist eine Schande
  2. Ein übermässig Neugieriger ~ein heimlicher Zuhörer verliert das Vertrauen ~ihn vermeidet man

Die Sätze 76 und 77 schieben (und erweitern) das Thema der Neugier auf das Einmischen in die fremde Sachen.
  1. Gehe nicht dorthin, wo du unerwartet bist
  2. Ein schlechter Mensch steckt immer die Nase in fremde Sachen

Analogische Irrfahrten kann man praktisch von jedem semantischen Punkt aus beginnen und unendlich weiterführen. Unsere Intuition spürt sicherlich, dass die Verhältnisse der Ähnlichkeit oder der Verwandtschaft zwischen den Ideen manchmal relativ vielfältig sein können:

   einige Ideen scheinen die Konkretisierungen, einige die Verallgemeinerungen der anderen zu sein;

   einige zeigen die Gründe, einige die Resultate der anderen;

   einige Ideen sind Konstatierungen und einige von diesen Konstatierungen entsprungene axiologische und deontische Schlussfolgerungen.

Die Intuition sagt auch, dass alle diese Zusammenhänge in der wirklichen Empirik relativ verstreut, vermischt und ungenau auftreten.

4. Die Richtung des Aufbaus des Systems: von oben nach unten oder von unten nach oben?

Der Schöpfer einer inhaltlichen Sprichwörterklassifikation muss so oder so auf zwei wichtigen Ebenen Entscheidungen treffen:

   1) welche Inhaltsklassen soll man überhaupt gründen und

   2) welches Material soll man in eine oder andere Klasse einordnen.

Bei den "deduktiven", von oben nach unten aufgebauten Systemen kommt es oft vor, dass man sie getrennt von dem Material herstellt und danach das Material in sie "einzugiessen" versucht. Später stellt es sich oft heraus, dass das Material sich nicht gleichmässig einteilt, sondern einige Klassen bleiben leer und einige werden übererfüllt, ein Teil des Materials bleibt über usw.

Es ist aber auch nicht viel besser, wenn wir streng von unten nach oben kommen ― von den Texten zu den Gruppen der unteren Stufe und weiter zu den allgemeineren Inhaltsklassen. Auch wenn es uns gelingt, eine feste Regelung zur "Übersetzung" der poetischen (Sprichwörter)texte in die nichtpoetische Metasprache zu schaffen ― früher oder später kommen wir doch dazu, dass nicht die Gliederung der Sprichwörter unser Hauptproblem wird, sondern zwei viel allgemeinere Verhältnisse:

   1) die Beziehungen zwischen den Metatermini, die den Inhalt der Sprichwörter beschreiben;

   2) die Beziehungen zwischen den Metatermini und den Denotaten (oder Designaten)

― also allmögliche Probleme der allgemeinen Semantik und andererseits die Probleme der Systematisierung und der Stellungnahme zu der Welt selbst; die Probleme des Aufbaus der "Lebensmodelle", "der Modelle des Wissens", "der Modelle des alltäglichen Verhaltens" usw.

Viele Autoren in der heutigen Semantik und Kognitivistik haben das Erforschen verschiedener Vorstellungen, die den sog. gesunden Menschenverstand veranschaulichen, der naiven Weltmodelle und ähnliches für wichtig gehalten. So ist z.B. eine der Komponenten in der "Grossen Kette des Seins" von G.  Lakoff und M. Turner nämlich ein naives Modell, das die Dinge der Welt nach ihrer Kompliziertheit/ Einfachheit organisiert, und wie es herauskam, war dieses Modell auch relativ passend, um die Regeln der Metaphern in den Sprichwörtern abzuleiten ("More than Cool Reason"; siehe auch ).


Einerseits wäre es seltsam vorzustellen, dass nämlich die Parömiologen diese Forschungsgebiete gründlicher entwickeln würden, um einigen spezifischen parömiologischen Problemen eine Lösung zu finden. Andererseits ist es klar, dass die Entstehung der allgemeintheoretischen Vorstellungen und Methoden zur Lösung dieser rein parömiologischen Probleme auch auf bestem Fall ziemlich langsam und oft zufällig geschieht und ihre Übertragung in die Parömiologie sicherlich nicht von selbst stattfindet. So bleibt es die Sache der Möglichkeiten, der Strategie und des Gewissens des Parömiologen, ob er hinsichtlich der allgemeinen Theorien eine zurückhaltende oder eifrig mithelfende Haltung einnimmt.

Wenn die Rede von der Richtung des Aufbaus der Sprichwörtergliederung ist, wird damit zugleich vorausgesetzt, dass das System von Form aus hierarchisch, baumartig wird. Die Form oder Struktur des Systems kann aber ein selbständiges Problem werden. In der kognitivistischen Literatur der letzten Jahrzehnte hat man oft über die Gliederungen gesprochen, die auf Prototypen basieren ― siehe z.B. das Buch von G. Lakoff "Women, Fire, and Dangerous Things". Dort erläutert man das radiale Gliederungsprinzip, das in den sog. natürlichen Gliederungen vorkommt: 'etwas Wichtiges / alles Übrige' (siehe auch ). Solche natürliche Gliederungen teilen die Welt in die sog. Klösse (die für uns interessant sind) und die Flüssigkeit (die für uns uninteressant ist); die Menge dieser Flüssigkeit kann voraussichtlich sehr gross sein. Vielleicht wäre die optimale Form einer semantischen Sprichwörtergliederung nicht ein Baum, nicht eine Hierarchie, sondern z.B. ein Netz (d.h. ein Zusammenschluss oder eine Symbiose der "Klössensuppe" und eines Baumes) oder eine andere Sprache oder ein Programm, mit deren/dessen Hilfe man alle inhaltliche Beziehungen aller zugehörigen Metasätze beobachten und ihre inhaltliche Nähe einschätzen könnte. Ein solches System lässt sich natürlich nicht in einer fertigen Form auf Papier skizieren, aber im Zeitalter der Elektronik ist diese Tatsache kein grosser Mangel. Wenn das System uns helfen würde, vom Material geschmeidige semantische Übersichten zu bekommen, die Beziehungen verschiedener Aspekte der Welt zu beobachten usw., wäre es brauchbarer als jede steife "fertiggemachte" Klassifikation. (Von den bisherigen Systemen verfügt nur der elektronische Index von Kuusi und Lauhankangas über solche Fähigkeiten.)

5. Das Verhältnis der Sprichwörter als System und der Welt als System

Dieses Verhältnis kann in mancher Hinsicht als Ungleichmässigkeit des Sprichwörterbestandes als System angesehen werden.

Wir antworten mit einer Bejahung auf die Frage, ob man überhaupt von der Folklore als von einem System sprechen kann, obwohl die Folklore eigentlich ein Prozess ist, der in der Zeit ständig Veränderungen durchmacht, und es sich von selbst versteht, dass z.B. die Überlieferung des 10. Jahrhunderts in ihrer typologischen und genrehaften Zusammensetzung und in vielen anderen Aspekten sehr unterschiedlich von der Überlieferung des 20. Jahrhunderts ist. Ebenso ist der Sprichwörterbestand einiger Völker (oder die Summe der Sprichwörterbestände aller Völker) eigentlich nur die Folge eines gewissen historischen Prozesses, seine synchrone Projektion. Aber sehr viele andere Objekte, die wissenschaftlich erforscht werden, wie die Sprache und die Gesellschaft, die Tierwelt und die Pflanzenwelt, Himmelskörper und Galaxien, chemische Elemente usw. sind ebenso Ergebnisse diachroner Prozesse, alle Wissenschaften behandeln aber bloss die Systematik eines gewissen Gebiets und das ist eine wichtige Handlungsrichtung. Insbesondere junge Disziplinen beginnen in der Regel mit der Inventur und dem Ordnen des Forschungsstoffes, ebenso die Parömiologie, die ja auch ein junger Wissenschaftszweig ist. Synchronisches Forschen ist oft eine unbedingt notwendige Voraussetzung zum diachronischen Forschen, es schafft ein nötiges Gerüst oder Schema, besonders in den Gebieten, bei denen es an direkter Information über die historische Entwicklung der Forschungsobjekte mangelt. Auch die Überlieferung ist ein solcher Forschungsobjekt und mehrere Schulen in der kurzen Geschichte der Folkloristik haben gedacht, dass sie zur Rekonstruktion des historischen Entwicklungsprozesses der Überlieferung bereit sind, leider hat es sich zum Schluss aber doch herausgestellt, dass ihr Informationsbestand und ihre Methodik zu schwach gewesen sind. Die Strebungen auf dem Gebiet der synchronischen Systematik helfen zugleich zu erläutern, was im Forschungsstoff häufig und was selten vorkommt, also kann man mit ihrer Hilfe vielleicht die sog. universellen Merkmale finden, d.h. die Merkmale der Menschenpsyche, der Sprache, der Kultur, die in der Zeit besonders resistent sind.

Das Hauptproblem des Verhältnisses zwischen den Sprichwörtern als System und der Welt als System besteht vielleicht darin, wo auch das Problem des Verhältnisses zwischen der Sprache und der Welt allgemeiner. Die Menschen bilden die Sprache nach ihren natürlichen, praktischen Bedürfnissen, d.h. durch die Pragmatik. Der estnische Sprachwissenschaftler Haldur Õim hat über die Sprache etwas sehr Wesentliches gesagt: "...es ist nicht richtig, sich die semantische Struktur der Sprache als ein gleichmässig gegliedertes "Netz" vorzustellen. Die Sprache ist in einigen Richtungen und Gebieten viel mehr strukturiert als in anderen. Auf einigen Themen ist eine viel feinere, mehr detaillierte Kommunikation möglich als auf anderen."

Das Gesagte gilt ziemlich genau auch bei den Sprichwörtern ― sowohl auf der ideellen Ebene, entsprechend der Menge der formulierten Gedanken in unterschiedlichen semantischen Gebieten, als auch auf der rethorischen und typologischen Ebene, d.h. entsprechend der Vielfältigkeit ihrer Formulierung in unterschiedlichen semantischen Gebieten. Wenn jemand die Sprichwörter semantisch zu gliedern versucht, gelangt er bald zu den zwei Erkenntnissen:

   1) einige Themen, Ideen oder andere Einheiten sind durch eine sehr grosse Menge der Empirik repräsentiert, die anderen dagegen nicht;

   2) wenn wir einige grob sortierte Materialbündel haben, ist man versucht, sie nach unterschiedlichen Merkmalen weiterzugleidern. Das ist ein Signal, dass verschiedene inhaltliche Regionen sich nach unterschiedlichen Merkmalen in natürliche Klassen einteilen.

Wir bringen hier einige Beispiele von den grösseren Themengruppen und -bereichen der mittleren Ebene der estnischen Sprichwörter, gleichzeitig wird die ungefähre Zahl der Typen gezeigt:

1. Das Kind; die Beziehungen der Kinder zu den Eltern (EB) 570 Typen
2. Arbeit, Fleissigkeit/Faulheit, ihr Zusammenhang mit der Ernte, dem Lohn, dem Lebenslauf (FAF–FAG) 520   –"–
3. Sprechen/Schweigen, Gerüchte, Kritik, Lob/Tadel, Prahlen (HG) 500   –"–
4. Verheiratung, die Wahl der Ehegattin/des Ehegatten (EDA–EDB) 480   –"–
5. Landwirtschaft, Feld, die Vorhersagen der Ernte (BA) 450   –"–
6. Zeit, ihr Verlauf, ihre Wirkung, ihre rationale Benutzung (FAE, IAA) 430   –"–
7. Futter und das Essen (DCA–DCF) 420   –"–
8. Reichtum/Armut; die Verhältnisse des Armen und des Reichen (GC) 330   –"–
9. Diebstahl, Verbrechen, Schuld, Strafe (GP) 330   –"–
10. Eigen/fremd, selbst/der andere, die Welt (GO, HL) 290   –"–
11. Tierzucht (BC) 290   –"–
12. Kalendarische Änderungen in der Natur (ABA–ABB) 270   –"–
13. Gut/schlecht, Sorge/Freude, Glück/Unglück; Zufall, Schicksal (IB) 240   –"–

Wenn wir die Gesamtmenge der estnischen authentischen Sprichwörtertypen auf 12 800 schätzen, dann machen diese 13 Lieblingsthemen etwa 40% von dieser Menge aus.

Oben war die Rede von der Einteilung nach der Frequenz entsprechend der Theorie von Zipf. Diese Einteilung gilt wahrscheinlich auch auf der inhaltlichen Ebene. Anders gesagt, der semantische Raum ist mit Sprichwörtern sehr ungleichmässig erfüllt und daher entspringen die Schwierigkeiten bei der Gründung einer unifizierten Prozedur oder eines Algorhytmus, eines Systems, das beim ganzen Material anwendbar wäre. Diese "zipfische Verdammung" kann man wahrscheinlich auch durch die Umgestaltung der Inhaltsklassen nicht bewältigen, da die Einteilung von Zipf auf allen denkbaren Ebenen funktioniert, darunter auch auf der Ebene des Typs. Was wir auch vornehmen würden, doch treffen sich in jede Inhaltsklasse der unteren Ebene wenige "grosse" und viele "kleine" Typen, in die Inhaltsklasse der Mittelstufe wenige grosse und viele kleine Untergruppen, überhaupt entstehen eher wenige grosse und viele kleine Gruppen der Mittelstufe usw.

Man kann auf die Idee kommen, überhaupt auf die Methode zu verzichten, derentsprechend die Sprichwörter als ein sekundäres System dem wirklichen Leben als einem primären System zum Hintergrund sind; als eine logische Weiterentwicklung dieser Denkweise wäre die Behauptung, auf die man in der Parömiologie auch gekommen ist, dass auf einer gewissen Ebene "die Summe aller möglichen Sprichwörter" das beste Hintergrundsystem des Sprichwörterbestandes bildet (d.h. eine praktisch unendliche Menge der Sprichwörter, von der 99,9% absurde Sprichwörter ausmachen würden). Man könnte sich den Sprichwörterbestand auch völlig autonom ansehen; von der Metapher des "pragmatischen Raums" ausgehend könnte man behaupten, dass der pragmatische Raum mit Sprichwörtern oder sonstiger Folklore relativ gleichmässig erfüllt ist, entsprechend den allgemeinen Funktionen der Sprichwörter oder sonstiger Überlieferung. So folgt auch der Sprichwörterbestand nämlich der im Leben geltenden Pragmatik: zu diesen Referenten, die im Leben aktuell sind, viele Probleme enthalten und Lösungen brauchen, gibt es viele Sprichwörter; Einschätzungen und Empfehlungen zu diesen Referenten entsprechen mehr oder weniger der "allgemeinen Meinung", die in ihrer Zeit in einem gewissen Raum herrschte.

Wenn wir uns z.B. die Repräsentation der sozialen Institutionen in estnischen Sprichwörtern anschauen, stellt es sich heraus, dass dieses Thema als Ganze relativ unproduktiv ist, gleichzeitig ist seine innere Gliederung doch ungleichmässig:

   über den Gutsherrn und den Gutshof etwa 150 Typen,

   über das Gericht, das Gesetz und die Gerichtsverhandlung etwa 80 Typen,

   über die Kirche und den Pastor etwa 35 Typen,

   über den Krieg, den Militärdienst und den Soldat etwa 20 Typen,

   über die Stadt und den Stadtbewohner etwa 10 Typen,

   über den König, die Regierung und den Staat etwa 10 Typen.

Wir möchten auf die Hoffnung verzichten, dass z.B. die Themen des Gutshofs und des Gutsherrn, der Kirche und des Pastors etwa gleich grosse "Kasten" darstellen, wir möchten auch auf die Bewunderung verzichten, dass der erste Kasten fast voll ist, der zweite aber fast leer, und wir würden das so erklären, dass der Gutshof pragmatisch genommen ein viel ernsteres Problem gewesen ist als die Kirche (und mutatis mutandis auch bei den anderen Themen). Bald würden wir aber wahrscheinlich begreifen, dass auch diese Verallgemeinerung vorzeitig ist, da z.B. in den Schwänken die Kirche und der Pastor viel häufigere Themen als der Gutshof und der Gutsherr sind, und es gibt bemerkenswert viele Lieder über den Krieg und das Soldatenleben. Überhaupt unterscheidet sich die thematische Struktur des estnischen Sprichwörterbestandes stark von der der Schwänke oder der Lieder oder auch von der Häufigkeitsstruktur der Lösungen der estnischen Rätsel.

Also wird es klar, dass das Ganze der pragmatischen Notwendigkeiten durch unterschiedliche Filter in unterschiedliche Genren kanalisiert wird und dass das Genrensystem der Folklore selbst vielleicht eine Widerspiegelung dieser pragmatischen Notwendigkeiten ist.


4.

Hoffentlich konnten wir den Leser darin überzeugen, dass die Inhaltsprobleme der Sprichwörter so kompliziert und miteinander verbunden sind, dass man keine Hoffnung hat, die wichtigsten von ihnen schnell zu lösen und die Ergebnisse im System einer Ausgabe gleich realisieren zu können. Wenn das grundsätzlich auch möglich wäre, würde sich die metasprachliche Aparatur, die zur Beschreibung eines solchen Systems dient, sicherlich so fein und schwerfällig erweisen, dass es unwahrscheinlich in eine populäre Ausgabe passen würde, da solche Ausgaben vor allem doch als Lesestoff gedacht sind.

Die inhaltliche Gliederung des "Sprichwörterbuches" bietet natürlich keine grundsätzliche Lösung den obengenannten fundamentalen Problemen. Eher hat man sich der Suche vernünftiger Kompromisse und der Erreichung einer problemlosen praktischen Anwendbarkeit Mühe gegeben. Zunächst werden die Gestaltung des Systems, die halbintuitive Prinzipien und Kriterien, die dabei benutzt worden sind, und das jetzige Aussehen des Systems kurz beschrieben.

1. Bei der Gründung des Systems hat man weder folgerichtig "von unten nach oben" noch "von oben nach unten" gegangen, eine allgemeinere Bewegungsrichtung ist jedoch "von unten nach oben". Praktisch ist das System ein Produkt der Selektierungsprozesse und allmählicher Präzisierung. Zuerst versuchte man, umfangreichere grosse oder mittelgrosse "Knoten" oder "grobe Gruppen", die deutlich einen gleichen oder ähnlichen Inhalt haben, vom übrigen Material zu trennen.

Bei der Entwicklung dieser Kenntnisse war sehr hilfreich die in den 50er Jahren von E. Normann gegründete und später von anderen Parömiologen erweiterte thematische Gliederung. Möglicherweise gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem System des "Sprichwörterbuches" und dem von Normann bei der Begrenzung der höheren Klassen und der Findung der Überschriften, die ganze Gliederung der mittleren und der unteren Stufe ist grundlegend unterschiedlich.

Z.B. formierte sich das Material des A- und B-Teils sehr schnell und in der fast entgültigen Form. Man kannte auch viele andere relativ grosse und koherente "Klösse", darunter die rohen Varianten der vorher behandelten Gruppen der produktivsten Themen. Ebenso wusste man, dass es eine grosse Anzahl an unbestimmten, aber syntaktisch homogenen und viel kontaminierten Sprichwörtern gibt, die auf den Formeln Wie..., so...; Jeder... hat sein.... ua. basieren. Daneben gab es aber einen umfangreichen Materialkomplex, dessen weiteres Schicksal man nur mühsam vorahnen konnte oder gar nicht wusste. Auch hatte man keine besonders deutliche Vorstellung davon, von welchen Klassen der höheren Stufe (jetzige Gruppen A–I) das System überhaupt aufgebaut werden soll.

2. Weiter setzte man die Arbeit auf verschiedenen Ebenen fort, z.B.:

   a) man sah die Masse der Sprichwörtertypen, die noch unorganisiert war, sich aber doch allmählich verminderte, mehrmals durch und versuchte, vereinzelten Typen und Typenkomplexen auf den schon gegründeten Themafeldern Plätze zu finden;

   b) andererseits erweiterte man die absoluten Grenzen des Systems selbst, indem man neue höhere oder niedrigere Inhaltsklassen gründete;

   c) man versuchte, die schon formierten grossen und mittleren Gruppen in kleinere Untergruppen zu gliedern;

   d) man versuchte, eine Reihenfolge inmitten der Gruppen unterer Stufe (später auch mittlerer Stufe) zu schaffen.

Anschliessend beschreiben wir näher inhaltliche und technische Seiten der Systematisierungsarbeit.

2a. Um die Stelle eines Einzeltyps zu bestimmen, hat man die semantische Formel (Metapher, Ellipse) des Sprichwortes so konkret, genau und eng bestimmt wie möglich. Dabei hat man berücksichtigt, wie produktiv die oder jene Metapher ist, welchen weiteren Formelnkomplexen sie angehören könnte und wie konzentriert oder zerstreut diese Formelnkomplexe im System auftreten.

Die meisten Komplexe mit der Wie..., so... -Formel, die in der buchstäblichen Lexik auf den Oppositionen 'Tier/das Junge des Tieres' oder 'Baum/die Teile des Baumes, die mit der Fortpflanzung verbunden sind (Ast, Eichel, Zapfen, Apfel)' basieren, hat man zu der Gruppe 246 gezählt, d.h. man hat sie als Verkörperungen der Idee 'wie die Eltern, so die Kindern' behandelt, obwohl die Interpretation auch weiter sein könnte, besonders bei dem Baum-Komplex, z.B. 'Wie der Mensch selbst, so auch seine Taten, Arbeiten' (vgl. z.B. die Kontaminationen Den Menschen kennt man nach seiner Arbeit, den Baum nach seiner Frucht, dessen Haupttyp in die Gruppe 443 gehört oder Den Baum kennt man nach seiner Frucht, den Mann nach seiner Tat, dessen Haupttyp in die Gruppe 742 gehört (in dieser kurzen elektronischen Version hat man diese Texte noch nicht zitiert).

Einige Beispiele von einer anderen Lösung.

Die Sprichwörter, deren Formel Wie..., so... keine bestimmte Interpretation ermöglicht, und für die man keine genaueren Unterscheidungen zu machen gewagt hat, befinden sich in den Gruppen 973–976, darunter Wie der Vogel, so das Gesang, bei dem auch die engere Interpretation 'Wie der Mensch, so seine Rede, Worte' möglich gewesen wäre (vgl. Gruppe 790). Die Hauptargumente beim Treffen dieser Entscheidung ist die enge kontaminationelle Zusammengehörigkeit des Paares Vogel/Gesang mit den anderen Paaren der IL-Klasse, wie Mann/Weise, Bauernhof/Dünnbier, Bauernhof/Weise, Land/Weise, Land/Gebräuche usw.

2b. Die Einteilung nach der Frequenz von Zipf gilt wahrscheinlich auch auf der Ebene der "Ideen der unteren Stufe". Anders gesagt, in einem natürlichen Sprichwörterbestand gibt es viele unhäufige Ideen (vor allem solche, die nur in einem Sprichwörtertyp auftreten) und wenige häufige Ideen (die in vielen unterschiedlichen Sprichwörtern auftreten). Um dem Buch ein gutes technisches Aussehen zu geben und die Benutzung bequemer zu machen, wäre es gut gewesen, das Material in möglichst gleichmässigen Portionen anzubieten und auch die Überschriften, die den Inhalt der Gruppen beschreiben, ähnlich zu formieren.

Die Detailliertheit der Gliederung und die Überschriften der Gruppen der unteren Ebene sind wieder ein Kompromiss ― zwischen der zipfischen Einteilung als Tatsache und dem gleichmässigen Aussehen als Strebung. Man hat versucht, das Material so detailliert zu geben wie möglich, andererseits wollte man die Entstehung der übermässig kleinen Gruppen vermeiden (die minimale Grösse der Gruppen der unteren Stufe ist in der Regel 3–4 Typen). Zusätzlich hat man versucht, die Entstehung der Rubriken "dieses und jenes" zu den Gruppen der mittleren Stufe zu vermeiden und die Grösse dieses Papierkorbes zu vermindern; leider ist das nicht immer gelungen.

Die Überschriften der Gruppen suchte man so zu formulieren, dass sie möglichst genau den Inhalt der entsprechenden Gruppen weitergäben, andererseits suchte man das Entstehen zu langer und ungenauer Überschriften zu vermeiden. Deshalb sind die Gruppen in einigen Bereichen (z.B. FBA–FBB oder HKB–HKC) nach sehr kleinen Inhaltsunterschieden gebildet, anderswo (besonders im A-Teil) ist es nur teils möglich gewesen, die Sprichwörter zu verbinden (d.h. entsprechend dem Thema), da die Versuche, die Gliederung detaillierter darzustellen, zum Spalten der Gruppen in die Bruchstücke mit 1–2 Typen geführt hätten. Es ist bei einigen Gruppen gelungen, kurze und deutliche Überschriften zu finden, die anderen dagegen sind lange Verzeichnisse der Themen, Ideen oder anderer inhaltlichen Merkmale oder deren Varianten.

Man hat versucht, auch jede Gruppe der unteren Stufe vereinzelt, entsprechend der Lexik der Metaphern, der syntaktischen, kalendarischen oder anderen Merkmalen innerlich zu ordnen. Diese Arbeit spiegelt sich zwar oft nicht mehr in den Überschriften der Gruppen wider, ist für ein aufmerksames Auge aber doch erkennbar.

2c. Eine allgemeine Strebung war es, möglichst viel Material mit möglichst wenig Gewalt zu gliedern. Z.B. in der Gruppe der Mittelstufe erscheinen gewöhnlich grössere oder kleinere Synonymenkomplexe. Man hat versucht, solche Komplexe als Basis der Gruppen der unteren Stufe zu benutzen. Weiter hat man beobachtet, ob man einen Teil des Materials, das ausserhalb dieses Zentrums bleibt, zu ein(ig)en Synonymenkomplex(en) zuordnen kann (falls man entsprechend einige inhaltliche Begrenzungen beseitigt). Andererseits hat man gesucht, ob es Merkmale gibt, nach denen man die entstandenen groben Gruppen als "natürliche Syntagmen" (z.B. zeitliche und/oder kausale und/oder modale Reihen oder Szenarien) oder als "natürliche Paradigmen" (z.B. alternative Lösungen eines Problems) einreihen kann. Gleichzeitig hat man versucht, das zerstreute Material entsprechend den sich ändernden Bedingungen möglichst ungewaltig zu organisieren. Man hat auch dann versucht, den Prinzipien des Einordnens in solche "natürliche Syntagmen" und "natürliche Paradigmen" zu folgen, wenn Synonymenkomplexe nicht entstehen oder es entstehen nur wenige ― in solchen Fällen leiten wir natürlich selbst das Material, anstatt sich vom Material leiten zu lassen. Wenn es konkurrierende Gliederungsmöglichkeiten gibt, ist man von der Idee des "kleinsten summarischen Chaos" ausgegangen.

So z.B. hat man bei den Themen der Landwirtschaft (BA) und der Tierzucht (BC) auf die gewöhnliche formale Gliederungen nach den Feldkulturen (Roggen, Gerste, Hafer, Flachs usw.) und den Haustieren (Pferd, Kuh, Schwein, Hund usw.) ganz verzichtet, da in diesem Fall auf der Unterstufe ein viel grösseres Chaos entstanden wäre als jetzt, wenn im BA-Teil die zeitlich einanderfolgenden Prozesse der Landwirtschaft behandelt werden (Düngen ® Pflug ® Aussaat ® Ernte), im BC-Teil richtet man sich auf die natürlichen pragmatischen Syndrome, die das Material selbst diktiert hat.

3. Es stellte sich heraus, dass man die Grundlage der natürlichen Szenarien, die man beim Einreihen der Gruppen der Unterstufe benutzte, relativ erfolgreich zu der allgemeineren Grundlage der "fliessenden Übergänge" weiterentwickeln kann, derentsprechend man alle Unterteilungen des Systems so einordnet, dass die Illusion der fliessenden inhaltlichen Fortsetzung beim Übergang von Gruppe zu Gruppe erhalten bleibt. Es wurde klar, dass man sogar nebeneinander stehende höhere Klassen meistens so stellen kann, dass die inhaltliche "Erschütterung" beim Übergang von einer höheren Klasse zu der anderen nicht besonders merkbar ist. In den besten Fällen (nicht in der Regel) ist es gelungen, das Material so zu ordnen, dass der Übergang zwischen den höheren Klassen sogar umfangreicher ist, d.h. die Merkmale der nächsten höheren Klasse entstehen schon in der vorigen höheren Klasse und die des vorigen setzen sich in der nächsten Klasse noch einige Zeit fort.

Der Sinn der fliessenden Übergänge ist vor allem ästhetisch und markiert die innere Kohärenz des Sprichwörterbestandes. Wegen der traditionellen reihenartigen hierarchischen Form des Systems bleibt hier die wichtige Fakt unmerkbar, dass ein solcher fliessender Übergang in den meisten Punkten des Repertoires nicht nur in einer, sondern in mehreren Richtungen möglich ist.

Auch die Technik zur Bezeichnung der Klassen versucht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass es einerseits um die Hierarchie und Unterbrechungen der inhaltlichen Merkmale, andererseits um den fliessenden Übergang von Gruppe zu Gruppe handelt: die grossbuchstäblichen Bezeichnungen der höheren und Mittelstufen sind hierarchisch eingeordnet, die Gruppen der unteren Stufe hat man dagegen im ganzen Buch laufend numeriert.

4. Also hat man die höheren Klassen des "Sprichwörterbuches" nicht nach den sich gegenseitig ausschliessenden Einzelmerkmalen formiert, sondern nach den Komplexen der Merkmale, die sich miteinander verflochten haben. Wenn man sich die kardinalsten Merkmale anschaut, zeigt sich bei ihrer Änderung die Tendenz "von unteren zu höheren" oder "vom elementaren zu komplizierten", nämlich

vom Nichtmenschlichen zu Menschlichen;
vom Naturellen zu Kulturellen;
vom Biologischen zu Sozialen;
vom Individuellen zu Kollektivischen;
vom Materiellen zu Geistlichen;
vom Konkreten zu Abstrakten.

Parallel mit diesen Änderungen vergrössert sich die Unbestimmtheit des Sprichwortes, vermindert sich die inhaltliche Kohärenz der Klassen der unteren und der Mittelstufe, vermindert sich das System- und Strukturgemässe überhaupt (oder es vergrössern sich die Formlosigkeit und die Fragmentarität des Materials).


5.

Zum Schluss bieten wir eine übersichtliche Exkursion in den höheren Einteilungen A–I des Systems.

Zum Anfang des A-Kapitels A. NATUR

Der Mensch nimmt hier noch nicht als unmittelbarer "Täter" am denotativen inhaltlichen Plan der Sprichwörter teil: er handelt in der Natur unaktiv, treibt keine Landwirtschaft, angelt und jagt nicht, sondern nur beobachtet die Natur sozusagen hinter den Sprichwörtern. Von den Kulturpflanzen und Haustieren ist keine Rede. Die wichtigsten Denotaten sind meteorologische Erscheinungen, nichtkultivierbare Pflanzen und wilde Tiere. Im anderen Abschnitt hat man versucht, kalendarische und nichtkalendarische Sprichwörter zu unterscheiden. Von Struktur aus teilt sich das Material hier ziemlich deutlich in "behauptende" und "vorhersagende" Einheiten.

Nach diesen drei Merkmalen ― Denotation, Kalendarität und die Struktur des Sprichwortes hat man die meisten Unterteilungen des A-Teils gebildet.

Z.B. Der Wolf hat die Kraft von einem Mann und die Vernunft von neun Männern und Die Eiche wächst, ein Pelz an, der Kopf kahl wären hier "nichtkalendarische Behauptungen", Der Kreis um den Mond zeigt Dürre an, der Kreis um die Sonne zeigt Regen an wäre eine "nichtkalendarische Vorhersage"; Am Antoniustag zerknallt das Herz der Kälte und Zu Mariä Verkündigung stellt die Krähe ihren ersten Nestbalken fest wären "kalendarische Behauptungen"; Wenn der Johannistag warm ist, sind die Weihnachten kalt und Wenn die Reiher niedrig fliegen, kommt ein niedriger Winter, wenn hoch, dann ein tiefer wären "kalendarische Vorhersagen".

Am Ende des A-Teils stehen die Gegenüberstellungen des Sommers/des Winters und des Frühlings/des Herbstes und die Sprichwörter, die kalendarisch unbestimmte Beziehungen behandeln, ebenso die Sprichwörter über die allgemeine Wirkung der Mondphasen und über ihren Zusammenhang mit der Meteorologie. Im ABE-Teil hat man zwei Sprichwörter über die Wochentage (genauer über den Freitag) und sonstiges amorfes Material versteckt.

Zum Anfang des B-Kapitels B. LEBENSUNTERHALT UND ARBEITEN

Den grössten Unterteil (BA) bilden hier mit der Landwirtschaft verbundene Sprichwörter. Der Unterschied zum A-Teil ist, das der Mensch im B-Teil aktiv ist, konkrete Arbeiten macht, meistens Beziehungen zu den kultivierbaren Naturobjekten hat. Die Grenze zwischen dem A- und B-Teil ist teils beliebig, manchmal sollte sie sogar zwischen den Varianten eines und desselben Sprichwortes laufen.

Z.B. Wenn es am Siebenschläfertag regnet, regnet es nocht sieben Wochen ist deutlich naturthematisch, der Mensch im Zentrum des Textes fehlt. Mit dem gleichen Anfang ...sieben Wochen, aber wenn es für so lange aufhört, dass sich ein Mann aufs Pferd schwingen kann, kann man doch auch auf gutes Wetter hoffen hat schon einen viel stärkeren pragmatischen Untertext: jemand hofft auf gutes Wetter, will wahrscheinlich Heu machen oder das Getreide dreschen. Mit dem gleichen Anfang: ...aufs Pferd schwingen, kann man doch Heu machen gehört schon sicherlich dem B-Teil an und bezieht sich auf die Thematik des Heumachens.

Der B-Teil fängt mit den Vorhersagen der Ernte ua. Unterteilungen (BAA–BAF) an, vom aktiven Handeln des Menschen ist noch nicht die Rede, aber die Prognosen und Entscheidungen sind nicht mehr neutral, sondern pragmatisch gekennzeichnet, d.h. das, was in der Natur stattfindet, wird vom Blickwinckel des Bauern angesehen.

Durch die Sprichwörter, die die Wichtigkeit des Feldes und die Notwendigkeit der fleissigen Feldarbeit betonen (BAF–BAG) kommt man zu den direkten Prozeduren der Landwirtschaft und sie werden in der normalen zeitlichen Reihenfolge dargebracht. Es folgen die Sprichwörter über das Heumachen, die Tierzucht, den Fischfang und die Seefahrt, den Jagd (BD–BE). Damit hat man auch den grössten Teil der kalendarischen Sprichwörter als Ganze erschöpft, weiter kommt der kalendarische Stoff nur zufällig vor.

Vereinbart hat man auch die Sprichwörter über die Berufe und die Amtsmänner (BF) dem B-Teil angeschlossen. Es handelt sich hier einerseits zwar um die konkreten Arbeiten und Wirtschaftszweige, diese Arbeiten sind aber nicht mehr mit der Natur verbunden und im Vordergrund stehen nicht mehr arbeitsverbundene, sondern soziale und ethische Probleme. Diese Gruppe der Sprichwörter ist relativ unproduktiv und gedanklich zerstreut, so wie es auch der sonstigen jüngeren Überlieferung charakteristisch ist.

Zum Anfang des C-Kapitels C. FAHRTEN UND LÄNGERES UNTERWEGSSEIN. HAUSHALTSARBEITEN. WERKZEUGE, BAUTEN, KLEIDUNG

Es setzt sich die mit den Arbeiten und der Geschäftsführung verbundene "ethnographische" Thematik fort. Unterschiedlich vom B-Teil handelt es sich aber nicht mehr um die Hauptwirtschaftszweige, sondern um verschiedene tägliche Nebenarbeiten; die Objekte, mit denen man während dieser Arbeiten in Verbindung kommt, sind meistens nicht mehr natürlich, sondern vom Menschen angefertigt (Werkzeuge, Wagen, Gebäude, Kleidung). Der C-Teil endet mit den Sprichwörtern über das Waschen, die Hygiene und die Vertreibung der Läuse, diese Sprichwörter schaffen einen Filter zum Übergang zum D-Teil, d.h. auf die Thematik, die sich mit den körperlichen Aspekten des Menschen befasst.

Zum Anfang des D-Kapitels D. DER BIOLOGISCHE MENSCH

Dieser Teil umfasst die Sprichwörter über die physiche Seite, über das biologische Funktionieren des Menschen. Grössere Schwierigkeiten entstanden bei der Unterbringung der Sprichwörter, die die Thematik des Essens und des Alkohols vertreten, da diese teils vielen anderen Paradigmen angehören, die anderswo im System des "Sprichwörterbuches" in selbständigen Rubriken vorkommen. Vom Thema des Essens passen zum D-Teil besser die Sprichwörter, die sich mit dem Geschmack und den energetischen Seiten des Essens beschäftigen. Wir zeigen hier ein paar problematische Punkte.

1. Es gibt Komplexe der Sprichwörter ähnlichen Inhalts aus dem Typ Wer isst, der macht und Wer macht, der isst. Der erste von ihnen steht im "Sprichwörterbuch" im D-Teil (Gruppe 171), der zweite im F-Teil (Gruppe 435). Im Falle eines anderen Kompromisses könnten sie einander auch näher sein.

2. Es gibt eine Gruppe von Sprichwörtern über das Essen, wo direkte technologische Unterrichtungen, Vorhersagen ua. im Zusammenhang mit dem Zubereiten des Essens gegeben werden, d.h. mit einer konkreten Haushaltsarbeit, die sich eigentlich im C-Teil befinden sollten.

3. Das Essen ist eine Art Eigentum, Vorräte, so sind mit ihm auch die Einschätzungen und Strategien des Vergeudens und des Sparens, des Geizes und der Knauserei verbunden (siehe besonders Gruppen 184–185), die sich im allgemeinen im FB-Teil befinden sollten.

4. Die Vorstellungen vom Essen, dem Hunger, dem leeren und dem vollen Magen sind in der Phraseologie überhaupt sehr produktiv und oft ist es schwer zu entscheiden, ob der Terminus des Hungers im direkten Sinne als Hunger nach dem Essen oder als 'Not', 'Armut', 'Mangel' verstanden werden sollte (vgl. z.B. die Gruppen 174–176 einerseits und 926–927 andererseits).
Doch schien das Paradigma des Essens so selbstverständlich ein Ganzes zu bilden, dass ich keine grössere Zerstreuung wagte.

Auch das Bringen der Themen des Alkohols und des Rauchens in den D-Teil kann einem widersinnig scheinen. Eine sehr natürliche Alternative wäre gewesen, sie sich im Rahmen des Paradigmas der Laster anzusehen. Dann hätte man aber grosse Schwierigkeiten bei der Bestimmung dieses Themafeldes gehabt: hätte man denn z.B. die mit den Liebesbeziehungen verbundenen Laster oder das Stehlen von ihren jetzigen Stellen (die sehr natürlich zu sein scheinen) wegräumen müssen, oder was hätte man mit der ganzen Reihe der Fehler des zwischenmenschlichen Verkehrs wie Unehrlichkeit, Wortbrüchigkeit, Lügen, Prahlen, Gerüchte usw. tun sollen, oder sogar mit der riesigen Menge des Materials über die sog. sozialen Laster im G-Teil? Zum Schluss ist es nicht klar, in welcher höheren Klasse des Systems man diesen bunten Koplex der Laster hätte unterbringen sollen, da die Laster und die Tugenden eigentlich überall da sind. Vernünftiger schien es doch, die Themen des Alkohols (als Trinken) neben dem Essen, das Rauchen wiederum neben dem Alkohol und die beiden ihrerseits in der Nachbarschaft der Krankheit und des Todes einzuordnen.

Zum Anfang des E-Kapitels E. ALTER UND GESCHLECHTER. LIEBE, FAMILIE UND HAUS. VERWANDTE

Das "bio"-Merkmal des D-Teils wird im E-Teil fortgesetzt, erhält aber hier schon eine spezifische "biosoziale" Qualität, d.h. als allgemeiner thematischer Rahmen dienen auf Blutverwandtschaft basierende Beziehungen, die Beziehungen der blutverwandten Menschen.

Der E-Teil beginnt mit den Sprichwörtern über das Alter, die Jugend und das Altsein.

Der Leser hat das Recht, die Tatsache für einen Fehler zu halten, dass die wichtigsten Epochen des Menschenalters wie die Geburt, die Jugend, das Alter und der Tod im "Sprichwörterbuch" ungefähr in der falschen Reihenfolge angeboten werden, ausserdem befinden sie sich noch in unterschiedlichen höheren Klassen (obwohl nicht weit voneinander). Bei diesem Kompromiss waren die folgenden Gründe entscheidend.

Ich war versucht, eine der höheren Klassen den Etappen des Menschenalters zu widmen und den "Lebensweg" in der richtigen Reihenfolge durchzumachen, d.h. von der Geburt bis zum Tod. Das gelang aber auch bei dem besten Willen nicht. Das Szenarium der Alter hat einen relativ grossen gemeinsamen Teil mit dem Szenarium der Blutverwandtschaft, sie sind aber keinesfalls identisch. Das erste läuft deutlich auf der zeitlichen Ebene, das zweite aber scheint im volkstümlichen Weltbild einen Teil des "egozentrischen Raums" zu erfüllen, der etwa als folgende Reihenfolge dargestellt werden kann: ich selbst → meine Beziehungen zu meiner Blutverwandtschaft und zu meinen Intimpartnern → Beziehungen zu anderen kontaktbereiten Vertretern meiner Klasse → Beziehungen zu den kontaktbereiten Vertretern anderer sozialen Klassen (nach oben, aber auch nach unten) → Vorstellungen von den nichtkontakten Menschen (König, wilde Leute usw.) → Vorstellungen von den demonologischen Wesen (Geister, Götter, Teufel).

Der jetzige Kompromiss zwischen diesen Dimensionen ist, dass man im Hauptgebiet des E-Teils (EB–EH) hauptsächlich der Reihe nach die Epochen des Alters durchläuft: das Kind als Solches → die Beziehungen des Kindes zu den Eltern → erwachsene Kinder → es beginnt der Verkehr mit dem anderen Geschlecht → die Themen der Wahl des Brautigams/der Braut → Hochzeit → Scheidung, Witwe → Waisenkind, Stiefmutter. Es ist bequem, von diesem Punkt durch die Gegenüberstellung 'eigen/fremd' zum Endteil der nichtzeitlichen Rechnung überzugehen, wo sich die Themen der Verwandten und des Zuhauses befinden. Der Hauptfaktor, der es hinderte, die Themen der Jugend und des Alters in der richtigen Reihenfolge zu geben, war aber, dass in den realen Sprichwörtern diese Denotaten meistens in einem kausalen Zusammenhang, nebeneinander oder einander gegenübergestellt vorkommen. Was die Geburt und den Tod betrifft, so sollte ihr Zugehörigkeit verschiedenen höheren Klassen im Falle unserer Ausgangsbedingungen sogar begründet sein: das Szenarium des Sterbens setzt einen, das Szenarium der Geburt mehrere "Teilnehmer" voraus.

Der zweite umstrittene Punkt im E-Teil ist vielleicht, dass das Thema der Schönheit sich im Kontext der Wahl des Ehepartners befindet (Gruppen 294–297). Solche Gliederung ist davon bedingt, dass das Problem der Schönheit in den estnischen Sprichwörtern meistens eben im Kontext der Wahl des Ehepartners aktuell wird.

Zum Anfang des F-Kapitels F. ARBEITEN, ERHALTEN, SAMMELN, ABGEBEN

Den Anfang des F-Teils (FAA–FAE) bilden Handlungstips für eine Einzelperson, die in einem sehr grossen Bereich verwendbar sind. Das konkrete Gebiet des Handelns ist unbestimmt, es kann biologisch, wirtschaftlich, sozial, ethisch ua. sein. Vor allem wird doch die Arbeit und mit der Arbeit verbundenes zielbewusstes Handeln im Auge behalten. Es werden Tips zur richtigen Wahl der Ziele und Mittel gegeben. Der Mensch wird befohlen, eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten zu berücksichtigen und sie auf dem Weg des Lernens und des Erfahrens zu entwickeln. Man warnt vor dem gedankenlosen und unvorsichtigen Handeln. Man empfiehlt, bei der Strebung zu den Zielen folgerichtig zu sein.

Sehr detailliert wird gelehrt, wie man mit der Zeit umgehen soll: Vor- und Nachzeitigkeit, Verspäten, Eilen und Langsamkeit, ihr Zusammenhang mit der Qualität der Entscheidungen und Erzeugnisse usw.

Durch die Themen der Zeitbenutzung geht man von den allgemeinen Handlungsstrategien zur direkten Thematik der Arbeit und der Faulheit (FAF–FAG). Dieser Themenkreis ist einer der produktivsten in den estnischen Sprichwörtern überhaupt. Die Arbeitsamkeit und die Faulheit werden in verschiedenen biologischen, sozialen, ethischen Aspekten charakterisiert, verglichen, eingeschätzt. Man spricht von der Unvermeidlichkeit, der Wichtigkeit/Sinnlosigkeit der Arbeit. Man beschreibt den Lebensstil der faulen und der fleissigen Menschen, wie sie sich der Arbeit gegenüber verhalten. Man trifft Entscheidungen über die Zusammenhänge zwischen der Arbeit und dem Essen, dem Schlaf, der Müdigkeit, der Erholung, der Gesundheit. Man betont, dass die Arbeit mit Lob und Dankbarkeit belohnt wird, die Faulheit bringt Schande und Tadel mit sich. Im Bereich 446–450 befindet sich aber der grösste Synonymenkomplex des estnischen Sprichwörterbestandes (in der vorliegenden Interpretation mit 220 Typen) ― die Idee 'Die Arbeit gibt Brot, die Faulheit bringt den Hunger' in ihren kleinen Modifikationen.

Von den Verhältnissen der Arbeit und des Ertrags, der Arbeit und des Lohns geht man zu den allgemeineren Verhältnissen der Tat und des Ergebnisses, der Aktivität und der Passivität, die den FAG-Teil auch abschliessen.

Weiteres Material des F-Teils (FB) bildet einen Filter dem Übergang zum G-Teil: es beginnt schon die Behandlung der Themen der Vorräte, des Eigentums, des materiellen Gewinns und Schadens, andererseits fehlt noch der sog. soziale menschliche Hintergrund, es handelt sich weiterhin um die Prognosen und Empfehlungen, die für eine Einzelperson gedacht sind. Den Kern dieses Unterteils bilden die Sprichwörter über die Notwendigkeit des Sammelns und des Sparens und über die verderblichen Folgen des Vergeudens, andererseits aber auch die Kritik des übermässigen Geizes.

Zum Anfang des G-Kapitels G. KLASSEN- UND EIGENTUMSVERHÄLTNISSE. SOZIALE INSTITUTIONEN. MACHT UND FÜHRUNG. VERBRECHEN UND STRAFE

Die allgemeine Thematik des Materials im G-Teil sind die mit Verteilung des Eigentums verbundene zwischenmenschliche Beziehungen unter den Bedingungen der Klassengesellschaft. Von der inhaltlichen Struktur aus gliedert sich der G-Teil offenbar in drei Unterteile.

Im 1. Unterteil (GA) ist die Rede vom legalisierten Übergang des Eigentums von einem Individuum zum anderen, wobei ihre soziale Angehörigkeit unbestimmt (gleich) ist ― d.h. hauptsächlich vom Geben und dessen besonderen Fällen (Borgen, Schenken). Gewissermassen wiederholt der GA-Teil die typischen Inhaltselemente des vorigen FB-Teils: die Rede ist wieder von Wollen und Erhalten, Geiz und Knauserei, Nutzen und Schaden. Der Unterschied ist, dass wenn man im FB-Teil diese Akte im Rahmen eines gewissen individuellen Utilitarsystems behandelte, wo viele Inhaltsmuster an die Übungen über den Behälter mit Ein- und Ausflussröhren erinnerten, dann im GA-Teil schaut man sie sich schon im Hintergrund des Modells, der einem zweiteiligen "zusammengeschlossenen Behälter" ähnelt, an.

Den 2. Unterteil bildet das Gebiet GB–GO, das gleichzeitig die Inhalts- und Massendominante des G-Teils ist. Hier sind das Hauptproblem die Privilege, die zwischenmenschlichen Verhältnisse, die Haltungen, die von der zwar legalisierten, aber ungleichen und ungerechtlichen Verteilung entspringen. Hier befinden sich auch klassische Gegenüberstellungen des Reichen und des Armen, des Gebieters und des Knechts, die Sprichwörter über die Thematik des Gutshofs, der Kirche und des Gerichts (die in der Regel gegen sie gerichtet sind). Im Bereich GG–GM hat man verschiedenartiges relativ junges Material über die gesellschaftliche Institutionen, den Besitz, die Macht und die Machthaber eingeordnet.

Zu der GN-Gruppe gehören die Einheiten, die sich einerseits um den Stand und die Verhältnisse der Starken und der Schwachen, der Wichtigen und der Unwichtigen, der Übergeordneten und der Untergeordneten und um die Akte und Haltungen, die mit der Macht und Führung verbunden sind (Befehlen, Gehorchen, Widerstand, Strafe, Unterwürfigkeit, Stolz), handeln, die Spezifik der Formeln hat es aber nicht erlaubt, sie in einen konkreteren klassisch-sozialen Kontext (Bauernhof, Gutshof, Kirche, Gericht, Armee) zu bestimmen.

Im GO-Gruppe sind die Sprichwörter über das Verhalten gegenüber des eigenen und des fremden Besitzes, über die guten und schlechten Seiten des Lebens auf Kosten der Anderen, die Verhältnisse des Gewinns und der Selbständigkeit, über den Neid. Die Sprichwörter dieser Gruppe haben einen starken Zusammenhang mit den Sprichwörtern der HK-Gruppe; man hat versucht, sie zu unterscheiden dadurch, ob die entsprechenden Äusserungen des Egoismus oder andere Haltungen ferner mit dem Ziehen des materiellen Gewinns verbunden sind oder ermöglichen die Formeln des Textes eine allgemeinere Interpretation.

Als 3. Untergruppe unter den Sprichwörtern sozialer Thematik kann man sich diejenigen ansehen, die den nichtlegalen Übergang des Eigentums (Diebstahl, Betrug), auch das Verbrechen, die Schuld und die Strafe behandeln (GP–GQ). Die Klassenzugehörigkeit der handlelnden Personen ist hier wieder unbestimmt.

Zum Anfang des H-Kapitels H. ZWISCHENMENSCHLICHE BEZIEHUNGEN IM ALLGEMEINEN. DAS GUTE UND DAS BÖSE BEI CHARAKTERN, IN GEDANKEN, WÖRTERN UND TATEN

In diesem Teil werden die zwischenmenschlichen Beziehungen noch allgemeiner betrachtet. Den "handelnden Personen" gelten keine geschlechtlichen, alters-, sozialen ua. Begrenzungen. Meistens hat man doch die Verhältnisse des Individuums zu den anderen ähnlichen Menschen oder Menschenkollektiven berücksichtigt. Als konkreteres inhaltliches Problem kann praktisch alles der Menschennatur und der Handlung Charakteristische sein, bei dem man die Begriffe des Guten und des Bösen gültig machen kann. Die Grenze zwischen dem G- und dem H-Teil wird auf der Linie der Ehrlichkeit überschritten: wenn der G-Teil mit der Unehrlichkeit gegenüber des Eigentums endete, dann der H-Teil beginnt mit der Problematik der Ehre und der Schande, des Rechtes und der Ungerechtlichkeit, der Wahrheit und des Lügens im allgemeinen (HA–HB). Durch die Themen des Worthaltens und der Wortbrüchigkeit, des Vortäuschens, der Listigkeit, des Menschenkennens, des Vertrauens und des Misstrauens, des Geheimnisses und dessen Offenbarwerden (HC–HF) tritt der kommunikative, sprachliche Aspekt der zwischenmenschlichen Verhältnisse in den Vordergrund.

Die folgende umfangreiche HG-Gruppe gehört direkt den Themen des Sprechens und des Schweigens, besonders dem Guten und dem Bösen, das sich im Sprechen versteckt oder daraus entsteht (Gerüchte, Kritik, Tadel und Lob, Prahlen usw.).

Weiter wird das Thema der Güte und der Bosheit auf verschiedenen Ebenen noch weiterentwickelt: Optimismus und Pessimismus (HH); dauerhafte gute und schlechte zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und Feindschaft (HI); eventuelle Zusammenstösse, Wortstreit, Streit, Prügel (HJ); die Folgen der Güte und der Bosheit (HKB).

Durch die sehr produktive Idee 'Wie du zu dem Anderen, so der Andere zu dir' (HKC) kommt man zu den allgemeinen Fragen über die Verhältnisse 'selbst/der Andere', 'ich/die Welt' (HL), deren Hauptproblem die Strategien des Einmischens/Nichteinmischens in fremde Sachen ausmachen. Es folgen die Sprichwörter, die auf dem Verhältnis 'ein/mehrere' basieren und die Verhältnisse der Einzelperson und des Kollektivs, den Einfluss des Milieus auf eine Einzelperson usw. behandeln.

Die HN-Gruppe enthält das Material über die traditionellen Verkehrsakte (Besuche, Feste, Vergnügungen) sowie über Bräuche und Riten.

Am Ende des H-Teils hat man noch verschiedenartige Sprichwörter über die Klugheit, die Menschennatur, Erkenntnisse und Erfahrungen versteckt, die sich eigentlich unter keiner Unterteilung Platz gefunden haben, die aber zweifellos zum Inhaltsfeld 'die mentalen Prozesse des Menschen' gehören. Hier befinden sich übrigens auch die Sprichwörter über das Sprichwort selbst (HO). Von der Themagruppe der Klugheit und der Dummheit hat man den Teil ausgelassen, wo diese Eigenschaften als Voraussetzung bzw. Hindernis zum erfolgreichen Handeln bebetrachtet werden (FAB).

Zum Anfang des I-Kapitels I. ABSTRAKTE KATEGORIEN UND VERHÄLTNISSE

Hier, im Endteil des Systems wollte man die Schichtung der estnischen Sprichwörter darlegen, der die allgemein philosophische Richtung am meisten charakteristisch ist. Der Mensch tritt auch hier als thematischer Referent auf. Charakteristisch ist dem I-Teil aber, dass der Mensch hier meistens weder handelt noch spricht, sondern einfach unvermeidlich Träger dieser oder jener Eigenschaften ist, er nimmt Gutes und Böses, das von seiner Natur, einem anderen Menschen, dem Leben selbst, dem Zufall verursacht wird, entgegen. D.h. die Rede ist nicht mehr davon, was man tun soll, sondern davon, wie die Sachen in der Welt eigentlich laufen.

Das Fachgebiet des I-Teils ist so abstrakt und der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Gruppen der Mittelstufe so locker, dass man nicht mehr von irgendwelchen logischen, zeitlichen oder anderen Grundsätzen bei der Einreihung der Gruppen sprechen kann. Die grössten (und auch inhaltlich kohärentesten) Gruppen bilden die Sprichwörter über die Zeit, deren Wirkung und Kategorien (IAA) und die Sprichwörter über das Leben und das Schicksal, die Dynamik der Freude und der Sorgen (IB). Das gemeinsame Merkmal bei der dritten grösseren Gruppe (IL) ist die relativ formale Gegenüberstellung 'Verschiedenheit/Entsprechung'.

Mehrere Gruppen figurieren im I-Teil nicht deshalb, weil dieser Standort ihnen am besten passt, sondern eher deshalb, weil dieser Standort für sie von allen anderen am wenigsten unpassend ist. Vielleicht enthält die I-Gruppe überhaupt zu viel Material ― auch solches, dessen eigentlicher Verwendungsbereich viel enger und konkreter ist. In vielen Fällen kann das Sprichwort deshalb unter den "abstrakten" untergebracht sein, weil seine Metapher so unklar ist, dass die einzige Komponente, die ich vom inhaltlichen Plan abzusondern gewagt habe, ein relativ abstrakter Begriff oder Zusammenhang ist.

Auf dem ersten Blick scheint es grotesk vorzustellen, dass wir im Kennen des Lebens und des parömiologischen Koden so unwissend sind, dass wir bei dem Sprichwort Fange den Kranich nicht mit einer Axt nur das begreifen, dass es um einen Befehl handelt, oder bei dem Sprichwort Lieber eine Brotkruste zu Hause als ein Butterbrot in der Fremde, dass es eine Bevorzugung ist. Oft unterscheidet sich aber die wirkliche Situation nicht viel davon.

Nehmen wir z.B. das Sprichwort, das sich in der 955. Gruppe des "Sprichwörterbuches" befindet und in der Schriftsprache folgendermassen lautet Wo man geht, dort bleiben die Spuren ― wir fühlen uns sofort relativ hilflos bei der Verschlüsselung dieses Satzes. Das einzige etwas sichere Wissen, zu dem wir gelangen, ist wirklich, dass das "Gehen" angeblich der Grund zur Entstehung der "Spuren" ist und die "Spuren" die Folge des Gehens. Wenn wir uns absichtlich noch dummer zeigen wollen, könnten wir noch hinzufügen, dass das "Gehen" und die Entstehung der "Spuren" in einem und demselben Ort stattfinden. Als erste Vermutung über die Bedeutung des Textes könnte man also anbieten 'Alle Taten haben ihre Folgen' oder 'Alle Sachen haben ihre Gründe'. Weiter könnten wir unsere Hypothesen präzisieren, indem wir den gleichnisartigen Komponenten andere gedankliche Merkmale beifügen, wie 'gut/schlecht', 'absichtlich/spontan'. Wenn wir diese Merkmale kombinieren, kommen wir auf die folgenden Präzisierungen:

   1) 'Wo man fleissig ist, dort fehlen auch die Resultate nicht';
   2) 'Wenn ein Mensch die Launen des Schicksals ertragen hat, Laster getrieben hat, spiegeln diese sich auch in seinem Gesicht und seiner Psyche wider';
   3) 'Böse Taten oder Schandtaten kann man nicht verhüllen'.

Andererseits warnt uns unsere Intuition, dass wir diese Interpretationen nicht zu wahrhaftig nehmen sollen, da ihre konnotative Motivation nicht genügend genau zu sein scheint.

Solche halbrätselhafte Sprichwörter trifft man im I-Teil (besonders im Bereich IG–IM) oft, aber auch das kann man sich bei gutem Willen als einen "fliessenden Übergang" zu dem letzten, dem J-Teil ansehen, wo die semantische Dunkelheit mancherorts schon völlig undurchdringlich ist.

Also sehen wir, dass die Spezifik der Sprichwörter wundervolle Eigenschaften hat, die vergleichbar mit den Fähigkeiten der berühmten Katze von Cheshire sind: sie können uns nicht nur Gesichter mit Lächeln und Gesichter ohne Lächeln, sondern auch die Lächeln ohne Gesichter zeigen.